Leseprobe aus „Der Harfner und der Geschichterzähler“, 1. Band:
„Ob Shondas wohl von seinem Herrn träumt?“ dachte Margon. „Wovon träumen Pferde nachts am Lagerfeuer? Wovon werde ich träumen, nach einem Tag, der so voller Ereignisse war?“ Er blickte über die Flammen des Feuers zu den dunklen Felsblöcken am Rande des Lagerplatzes. Eigentlich war es ja seltsam, dass sich ausgerechnet hier in diesem Waldstück, wo einzelne Findlinge ziemlich selten waren, gleich fünf Felsen auf einen Haufen angefunden hatten, und noch dazu fast im Kreis angeordnet. Da war es doch wahrscheinlicher, dass an diesem Ort vor unendlich langer Zeit einmal eine Kultstätte oder das Grab eines Clanführers gewesen war. Margon überlegte, ob er jemals etwas von einer Kultstätte oder dergleichen in dieser Gegend gehört hatte, aber es fiel ihm nichts darüber ein. Die Zeit, unerbittliche Zerstörerin und Verwandlerin, war mit ihrer Verbündeten, der Natur, über diesen Platz hinweg gezogen, hatte alle Malereien auf dem Gestein fortgewischt, die Inschriften abgeschliffen und die einst weit in den Himmel emporragenden Zeichen mit Moos und Erde bedeckt. Wenig war übrig geblieben vom Volk der Elfen, der Erstgeborenen, das vor urdenklichen Zeiten die Tore zu den unzähligen anderen Welten aufgestoßen hatte, die die Herrin des Netzes träumte. Mit einem Mal erinnerte Margon sich an die Stimme seines Lehrmeisters Yerad, so wie er vor Jahren zu seinem Schüler gesprochen hatte: `In den Alten Tagen lebte das Elfenvolk in ganz Runland, von den undurchdringlichen Wäldern des Wildlandes bis hin zu den Südprovinzen. Sie schufen die ersten Siedlungen, sie bauten die ersten Straßen, wie die große Südstraße nach T´lar, sie errichteten die ersten Tempel. Die Kultplätze, die sie schufen, waren durchtränkt von Erdmagie. Durch sie beeinflussten sie ihr Leben in Runland. Sie erdachten Harfen, deren Musik neues Leben entstehen ließ, weil die Geheimnisse des Dunklen Königs in ihnen ruhten, sie ersannen Schriftzeichen, die dem Wind und dem Sturm geboten, den Feuern in der Erde und den Blitzen am Himmel, der Gewalt des Meeres und der schöpferischen, fruchtbringenden Kraft der Erde. Es war die Blüte- und Glanzzeit der Erdmagie, ihre Geburt und ihr Voranschreiten zum Zenit. Zu keiner Zeit besaßen die Elfen mehr Macht als in den Alten Tagen. Sie lebten in Einklang mit der Welt, die sie umgab, und machten sich die Geheimnisse der Natur nutzbar, ohne sie zu vergewaltigen.´ `Wie lange dies wohl schon zurückliegen mochte?´ überlegte Margon. So viele dunkle Zeitalter befanden sich zwischen dem Gestern und dem gegenwärtigen Frühling... Er warf einen Blick auf die Harfe, die neben ihm lag. Für einen kurzen Moment schien es ihm, als ob der Schein des langsam herunterbrennenden Lagerfeuers, der sich auf Syrs schwarzem Holz widerspiegelte, zu Schriftzeichen zusammenfließen würde, die ein schwach bläuliches Licht in die Dunkelheit ausstrahlten. Margon hielt überrascht den Atem an. Er zwinkerte, sah genauer hin, und der Schein verschwand, wurde wieder zum Spiegelbild der tanzenden Flammen, wenn es überhaupt jemals etwas anderes gewesen war. Der Harfner blickte noch einige
Minuten auf sein seltsames Instrument, ohne sich darüber klar zu sein,
was er eigentlich zu sehen erwartete, doch es geschah nichts mehr. Mit einem
belustigten Kopfschütteln über sich selbst und seine Einbildungskraft
wandte er sich wieder ab. |