Leseprobe aus „Der Harfner und der Geschichtenerzähler“, 2. Band:

        Ay, Jugend hatte einen ebenso wahrnehmbaren Geruch wie das Alter, einen starken, frischen Geruch, den jedes Kind verströmte wie ein gerade aufgeblühter Lavendelstrauch zur Zeit der Sommersonnwende. Der Geschichtenerzähler liebte es, diesen Geruch einzuatmen. In der Gegenwart eines Kindes wie Theris fühlte er sich so lebendig, als wäre Alter und Tod nur ein schlimmer Traum von Winternächten, während man im heißen Gras lag und der Musik der Heuschrecken zwischen den Kornblumen lauschte. Tränende Augen? Schmerzen in den Gliedern? Der allmähliche Verlust der Erinnerung? Das war etwas für andere Menschen, er konnte sich bei aller sonstigen Einbildungskraft nicht vorstellen, wie es sein würde, einmal in einen alten Körper eingesperrt zu sein, und er wollte es sich auch gar nicht vorstellen.

        Ob Kindern und jungen Menschen eine Form von Magie innewohnte? Eine Art Jungbrunnen, der sie befähigte, mit Leidenschaft an etwas zu glauben, einem Traum Leben einzuhauchen, und der in späteren Jahren unweigerlich versiegte? Er kannte Menschen, die älter waren als er und dies dachten. In ihren Augen hatte die Trauer darüber gestanden, dass sie sich nicht mehr zu den Gefühlen und Taten in der Lage sahen, von denen sie beobachteten, mit welcher Leichtigkeit Kinder dazu imstande waren. Was, wenn diese Menschen tatsächlich recht hatten? Wenn etwas Göttliches in einem unwiederbringlich verloren ging beim nicht aufzuhaltenden Älterwerden?

        Die dumpfen Trommeln pochten weiter im Takt seines eigenen Herzens. Die schwarzen Überreste der Toten glühten im weißgelben Mittelpunkt des Holzstoßes.

        „Kennst du irgendwelche Gesichten über den Tod?“ fragte Theris neben ihm.

        „Ich habe schon einige gehört“, antwortete Callis.

        „Sind es Geschichten über die Träumende Cyrandith und den Dunklen König? Der, der im Sommerland dafür sorgt, dass die Toten erneut von Cyrandith geträumt werden?“

        Callis nickte. „Ay, über ihn und die Träumende Göttin. Aber - ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst...“

        Er hielt kurz inne und setzte erneut zum Sprechen an.

        „Ich...ich will heute keine Geschichten über den Tod mehr erzählen. Mit ihm endet alles. Pflanzen sterben, Tiere und Menschen sterben, und mit den Menschen auch das, was sie erlebt haben, was sie schön fanden, was ihnen Angst machte und wovon sie träumten. Alles endet irgendwann, auch Geschichten enden einmal. Und am Ende ist immer Schweigen.“

        „Aber was ist mit dem Kreis?“ fragte Theris. „Mit dem Jahresrad? Meine Eltern haben mir erzählt, dass das Rad sich immer weiter dreht. Sie sagen, dass es kein Ende gibt und Cyrandith uns immer wieder träumt. So, wie aus toten Pflanzen Erde für neue Pflanzen wird.“

        Der Geschichtenerzähler lächelte schmerzlich.

        „Das hat mir mein Vater ebenfalls erzählt, als er noch lebte“, antwortete er. „Und auch ich habe erst vor kurzem dem Harfner so eine Geschichte erzählt. Doch je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, daran zu glauben. Verstehst du, Theris? Ich sehe mir diese toten Menschen an, und ich bin mir nicht mehr sicher, was tatsächlich geschehen wird, wenn ich meinen letzten Atem ausstoße. Und ich frage mich immer mehr, wieso eigentlich jeder, der mir begegnet, eine faszinierende Geschichte darüber parat hat, wie es wohl nach dem Tod weitergehen könnte. Alles, was ich weiß, ist, dass ich Angst habe.“