Leseprobe aus „Sturm der Serephin“, dem ersten Band der „Runlandsaga“: Harcalja wandte sich ruckartig um und spähte angestrengt zu den Birken hinüber, zwischen denen er die Anhöhe hinabgestiegen war. Die Schwärze hinter der ersten Baumreihe, die er im Dunkeln gerade noch ausmachen konnte, gab nichts Erkennbares preis, aber er vernahm ein kaum hörbares Rascheln im Gehölz. »Sieht so aus, als ob wir heute Nacht noch etwas Frisches zu essen bekommen«, flüsterte er zwischen den Zähnen hindurch. Er beugte sich zu den Hunden hinab und strich ihnen über die Köpfe. Durch die Fingerkuppen spürte er, wie das dumpfe Knurren der beiden Tiere ihre Körper zum Erbeben brachte. Was auch immer es war, das sie gewittert hatten, sie würden es stellen. Bisher hatten sie ihn nie enttäuscht. Die Aphnat verkörperten seinen wertvollsten Besitz. »Schnappt es euch!«, zischte er. Sofort sprangen Arcon und Zerva auf und stürmten laut bellend auf die erste Baumreihe zu. Harcalja beeilte sich, wieder in die Stiefel zu schlüpfen, und griff nach seinem Bogen. Er hatte gerade erst ein paar Schritte in die Richtung zurückgelegt, in die seine Hunde losgerannt waren, als sich das laute Kläffen in ein schrilles Jaulen verwandelte. Ihre Beute hatte einen von ihnen verletzt! Erschrocken begann Harcalja, schneller zu laufen. Niedrig hängende Birkenzweige schlugen ihm schmerzhaft ins Gesicht. Einer seiner beiden Hunde jaulte noch immer dicht vor ihm in der Dunkelheit, während der andere weiterhin bellte und knurrte. Dann erstarb das Jaulen so abrupt, als wäre es wie ein Stück Stoff mit einer Klinge durchtrennt worden. Harcalja lief mit seinem Bogen und einem Pfeil aus seinem Köcher in den Händen in die Richtung, aus der das wütende Bellen erklang, in das sich mittlerweile ein tiefes, bedrohliches Grollen gemischt hatte. Was in aller Welt hatten die Hunde gestellt? Einen Bären? Nein, so hörte sich kein Bär an. Er stolperte über etwas, wovon er dachte, es wäre eine Baumwurzel, und schaffte es mit einem lauten Fluch gerade noch, das Gleichgewicht zu halten. Ein Blick zu Boden über die Schultern hinweg ließ ihn erstarren. Er war beinahe über Zervas Körper gestolpert, der zwischen den halb verrotteten Blättern des vorigen Jahres lag. Harcalja drehte sich um und kniete sich neben den toten Körper. Schweiß brach ihm aus. In einiger Entfernung hörte er das wütende Knurren von Arcon, in das sich das unheimliche Grollen seines Gegners gemischt hatte, doch für den Augenblick schien es an Lautstärke zu verlieren, als hätte der auf dem Boden liegende Hund den Fallensteller seines Gehörs beraubt. Alle Geräusche des nächtlichen Waldes wurden von Zervas Anblick in den Hintergrund gedrängt. Der Kopf des Aphnat war eine einzige blutige Masse aus Fell, Fleisch und matt in der Finsternis schimmernden Knochensplittern, als wäre er zwischen zwei riesige Kiefer geraten, die ihn zermalmt hatten wie eine Nussschale. Harcalja erkannte ihn nur daran, dass er ein wenig größer gewachsen war als Arcon. Sein Herz hämmerte heftig bis in den Hals. Wer konnte das Tier in wenigen Augenblicken so zugerichtet haben? Im nächsten Moment brach etwas vor ihm aus dem Unterholz hervor. Der Fallensteller wirbelte herum, einen Pfeil auf dem Bogen, dessen Sehne er in einer schnellen Bewegung spannte. Arcon kam auf ihn zugesprungen wie ein dunkler Blitz, doch der Hund schien seinen Herrn gar nicht wahrzunehmen. Seine weit aufgerissenen Augen schimmerten im Mondlicht, zwei weiß leuchtende Flecken, deren darin hausender Schrecken jeden anderen Gedanken übernommen hatte. Dicht hinter ihm rannte ein gewaltiger Schatten. Mit wenigen Sätzen holte er ihn ein und riss ihn von den Beinen. Arcon jaulte grässlich auf, doch das Geräusch ging im Grollen seines Verfolgers unter. Harcalja, der nur wenige Fuß davon entfernt stand, handelte, ohne lange zu überlegen. Er riss den Bogen hoch und schoss. Das riesige, schwarze Tier, das sich über Arcon auftürmte wie ein Felsen, warf den Kopf hoch und stieß ein Brüllen aus, das Harcalja durch Mark und Bein fuhr. Die Knie des Fallenstellers begannen zu zittern, als das Ungeheuer den Blick auf ihn richtete. Erst jetzt erfasste sein Verstand, was ihn da anstarrte. Es war ein Wolf, so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Selbst im hellen Mondschein fand sich keine einzige Stelle an seinem Fell, die nicht schwarz war wie der tiefste Grund einer Höhle, in die nie ein Lichtstrahl drang. Als er den Fallensteller anstarrte, bewegten sich die dicken Muskeln dicht unter dem struppigen Fell wie rollende Steine. Der Schwanz des Ungetüms peitschte wild hin und her, als wäre er selbst etwas Lebendiges, das sich bedrohlich hinter seinem Herrn aufrichtete. Doch das Furchterregendste an dem Tier waren die Augen. Sie funkelten trotz des Mondlichts, das dem Wald die Farben des Tages raubte, tiefrot und richteten sich zornig auf Harcalja, zwei glühende Kohlen, die wie wuchtige Geschosse mitten in seinen Geist einschlugen und ihn schier von den Füßen warfen. Im Blick dieses Ungeheuers las er seinen eigenen Tod. Der abgeschossene Pfeil steckte in der rechten Schulter des Wolfs. Aus den Augenwinkeln sah Harcalja, wie Arcon verzweifelt und knurrend mit aller Kraft versuchte, sich aus dem Griff des Angreifers zu befreien, der ihn mit seinem Gewicht zu Boden drückte. Sein Hauptaugenmerk allerdings galt dem Ungeheuer selbst, das nun eine Vorderpranke anhob, die gar nicht wie die eines Wolfes aussah. Er erkannte einzelne, behaarte Fingerglieder, die sich um den Pfeilschaft schlossen. Unter Ohren betäubendem Gebrüll riss sich das Tier den Pfeil aus der Schulter, schleuderte ihn ins Gebüsch und ließ sich mit seinem vollen Gewicht auf Arcon fallen. Der Jäger war wie gelähmt. Er konnte nicht fassen, wie dieser Wolf sich gerade mit einer regelrecht menschlichen Geste des Pfeils entledigt hatte. Für einige Augenblicke erfüllte seinen Verstand allein Arcons Jaulen, während das Raubtier die Zähne in den Hals des Hundes schlug, bis dessen Winseln von einem Moment auf den anderen verstummte und nur noch das heisere Keuchen des Ungeheuers zu hören war. Harcaljas Blase entleerte sich, doch er bemerkte es nicht. Erst als er die warme Nässe zwischen den Beinen spürte, rasten wieder zusammenhängende Gedanken durch seinen Geist. Er ließ den Bogen fallen und drehte sich um. Mit weit ausholenden Schritten rannte er die Anhöhe hinab, den Blick starr auf den kaum sichtbaren Waldboden gerichtet, um nicht über eine Wurzel oder einen Stein zu stolpern. Das konnte kein gewöhnliches Tier sein! Der Alte hatte Recht gehabt! In dieser Gegend hausten Geister, und was immer sich dort hinter ihm befand, es war einer von ihnen. Dann vernahm er über sein eigenes, lautes Keuchen hinaus das Grollen seines Verfolgers. Die kalte Nachtluft trocknete den Schweiß auf seiner Stirn, während er seine Anstrengungen verdoppelte. Bei jedem Einatmen durchfuhren heftige Stiche seine Leistengegend, doch er lief weiter auf das Seeufer zu, wo sich weniger Bäume befanden, die ihm im Weg standen. Zweige knickten hinter ihm. Ein lautes Knurren drang an sein Ohr. Harcalja wagte nicht, sich umzudrehen. Er rannte, rannte um sein Leben, aber etwas in ihm wusste längst, dass er verloren war, dass der einzige Grund, weshalb er überhaupt den aussichtslosen Versuch einer Flucht unternahm, das Grauen in der unmittelbaren Gegenwart dieses Ungeheuers war, der Blick in die Augen jenes anderen Jägers, der keinen weiteren Gedanken zuließ als den, sich ihm um jeden Preis zu entziehen.
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